Die wachsende Bedeutung von Ökosystemen und Plattformen für Versicherer (Teil 4)

Die Versicherungsbranche befindet sich im Umbruch: Traditionelle Geschäftsmodelle geraten an ihre Grenzen, während sich gleichzeitig vielversprechende Chancen eröffnen, neue Wachstumsfelder zu erschließen. Im Mittelpunkt dieser Transformation stehen digitale Ökosysteme und Plattformen, die zunehmend an Bedeutung gewinnen.

In Teil 4 des Insurance Strategy Talk 2020 beleuchte ich (Karl Heinz Passler, Basler) mit Experten wie Sibylle Fischer (Baloise Group), Dr. Stefan Knoll (Deutsche Familienversicherung), Joerg-Tobias Hinterthür (Zurich) und Phillip Harrschar (Zühlke) die Chancen und Herausforderungen, die digitale Ökosysteme für die Branche mit sich bringen. Dieser Artikel fasst die wichtigsten Erkenntnisse zusammen, zeigt die wesentlichen Implikationen auf und gibt Einblicke, wie Versicherer sich in einer zunehmend vernetzten Welt strategisch positionieren können.

Was ist Embedded Insurance?

Embedded Insurance, oder eingebettete Versicherung, beschreibt die nahtlose Integration von Versicherungsprodukten in bestehende Services oder Produkte. Sibylle Fischer, Leiterin für Venture Investments bei der Baloise Group, erläutert diese innovative Herangehensweise anhand ihrer Erfahrungen und Hypothesen.

„Versicherung ist ein Produkt, das kaum jemanden begeistert, aber dennoch eine essentielle Rolle spielt, weil es uns Sicherheit gibt,“ so Fischer. Ihrer Ansicht nach wird Versicherung selten aktiv gesucht – man kauft sie, wenn sie benötigt wird, etwa beim Umzug in eine neue Wohnung oder dem Erwerb eines Fahrzeugs. Das Konzept der Embedded Insurance nutzt genau diese Gelegenheiten, indem Versicherungen direkt in den Kaufprozess eines Produkts oder einer Dienstleistung integriert werden.

Ein Beispiel dafür ist das Mieten eines Autos. In diesem Moment, so Fischer, ist der Kunde bereit, eine zusätzliche Versicherung mit maximaler Deckung zu wählen, um potenzielle Probleme im Schadensfall zu vermeiden. Dieses einfache, reibungslose Angebot erhöht die Akzeptanz bei Kunden und schafft gleichzeitig Mehrwert für Versicherer.

Für Fischer ist Embedded Insurance ein zentraler Bestandteil digitaler Ökosysteme und Plattformen. Diese ermöglichen es, Versicherungsprodukte in alltägliche Prozesse zu integrieren und sie so für den Kunden greifbarer und relevanter zu machen. Damit eröffnen sich nicht nur neue Geschäftsfelder, sondern auch Chancen für innovative Partnerschaften, die sowohl den wirtschaftlichen Erfolg als auch das gemeinsame Lernen fördern.

Sind digitale Ökosysteme für Versicherer wirklich neu?

Die Diskussion über digitale Ökosysteme und Plattformen mag aktuell erscheinen, ist jedoch kein völlig neues Konzept in der Versicherungsbranche. Philipp Harrschar betont, dass diese Themen bereits seit Jahren diskutiert werden – wenn auch unter anderen Begriffen. Technologien wie Blockchain, die eng mit dem Gedanken von Ökosystemen verknüpft sind, standen in der Vergangenheit im Fokus. Dennoch hat sich die Diskussion zuletzt durch die Einführung spezifischer Begrifflichkeiten wie "digitale Ökosysteme" und "Plattformen" intensiviert.

Joerg-Tobias Hinterthür unterstreicht diese Sichtweise und verweist auf etablierte Strukturen wie Werkstatt-Netzwerke im KFZ-Bereich. Diese Netzwerke, die auf partnerschaftliche Zusammenarbeit und gegenseitigen Mehrwert setzen, sind seit Jahrzehnten in der Branche verwurzelt und können als Vorläufer moderner Ökosysteme betrachtet werden.

Der aktuelle „Hype“ um digitale Plattformen und Ökosysteme ergibt sich möglicherweise aus der Ablösung anderer Trendthemen, wie der Blockchain-Technologie, so Hinterthür. Die grundlegende Idee, durch partnerschaftliche Beziehungen in Netzwerken Mehrwert zu schaffen, ist jedoch alles andere als neu – sie wird lediglich durch die heutigen technologischen Möglichkeiten neu interpretiert und erweitert.

Damit zeigt sich, dass digitale Ökosysteme weniger eine bahnbrechende Innovation, sondern vielmehr eine Weiterentwicklung bewährter Konzepte sind, die sich nun in einem neuen Kontext entfalten.

Sind Ökosysteme nichts weiter als neue Vertriebskanäle?

Die Diskussion, ob digitale Ökosysteme lediglich als neue Vertriebskanäle betrachtet werden können, zeigt ein differenziertes Bild. Dr. Stefan Knoll sieht in Ökosystemen wie denen von Apple oder Amazon, die Kunden langfristig binden, eine Struktur, die Versicherer nicht im klassischen Sinne aufbauen können. Stattdessen seien Versicherer darauf angewiesen, durch Kooperationen und Partnerschaften Vertriebswege zu schaffen, bei denen ihre Produkte nahtlos integriert – eingebettet – angeboten werden, wie beispielsweise Versicherungen im Kontext von Autovermietungen.

Für Joerg-Tobias Hinterthür geht der Nutzen von Ökosystemen jedoch weit über einen neuen Vertriebsweg hinaus. "Wenn wir Ökosysteme betrachten, geht es darum, verschiedene Partner so zu verknüpfen, dass Kundenbedürfnisse umfassend erfüllt werden – und zwar in einer Weise, die ein einzelner Anbieter nicht leisten könnte," erklärt er. Dabei spielt nicht nur die Funktionalität der Partnerschaften eine Rolle, sondern auch deren Passung zur eigenen Marke. Eine Premium-Versicherung sollte beispielsweise mit einem hochwertigen Mietwagenanbieter gekoppelt sein, um den Erwartungen der Kunden gerecht zu werden.

Darüber hinaus sieht Hinterthür die Zukunft weniger in isolierten Versicherungsprodukten als vielmehr in ganzheitlichen Services. Statt über spezifische Versicherungen wie Hausrat- oder Wohngebäudeversicherungen nachzudenken, könnte der Fokus auf einem umfassenden Angebot wie "Sicher Wohnen" liegen. In diesem Modell werden klassische Versicherungsprodukte mit datenbasierten Services kombiniert, die durch Plattformen ermöglicht werden.

Die Essenz eines Ökosystems liegt somit nicht nur im Vertrieb, sondern in der Fähigkeit, Mehrwerte durch integrierte Services zu schaffen, die Kundenbedürfnisse über die Grenzen einzelner Produkte hinaus abdecken. In einem solchen System werden verschiedene Partner zusammengebracht, die gemeinsam ein nahtloses und wertsteigerndes Kundenerlebnis bieten – etwas, das isolierte Anbieter nicht realisieren könnten.

Haben kleine Versicherer in Ökosystemen überhaupt eine Chance?

Die Frage, ob kleine Versicherer in digitalen Ökosystemen lediglich die Rolle eines Lieferanten einnehmen können, wird von den Experten differenziert betrachtet. Sibylle Fischer verweist auf erfolgreiche Beispiele wie die Deutsche Familienversicherung, die mit ihrer Pflegeversicherung zeigt, dass auch kleine Versicherer in Nischen erfolgreich sein können. Größe war zwar lange das Maß aller Dinge, doch in einem diversifizierten Markt bieten sich auch für kleinere Anbieter weiterhin Chancen, sich zu behaupten.

Dr. Stefan Knoll betont, dass die Größe eines Versicherers aus Kundensicht nicht entscheidend ist. "Der Kunde interessiert sich vor allem dafür, ob er das Produkt versteht, es schnell abschließen kann und die Gesellschaft zügig leistet, wenn es darauf ankommt," erklärt er. Die regulatorische Aufsicht sorgt zudem dafür, dass sowohl große als auch kleine Versicherer ihren Verpflichtungen nachkommen können. Dennoch stellt die Kapitalbindung, insbesondere in Krisenzeiten wie der Corona-Pandemie, eine Herausforderung dar, die kleinere Unternehmen stärker treffen kann und daran hindert mehr in Digitalisierung und Vertrieb zu investieren.

Joerg-Tobias Hinterthür ergänzt, dass Ökosysteme gerade für kleinere Versicherer eine Chance bieten, sich durch Spezialisierung und Zusammenarbeit zu behaupten. „Wenn ein kleiner Anbieter eine Nische findet und diese mit einer überzeugenden Story besetzt, kann er nicht nur erfolgreich sein, sondern auch ein eigenes Ökosystem aufbauen.“ Zudem eröffnen Ökosysteme Möglichkeiten zur Kooperation zwischen kleinen Versicherern, die ihre jeweiligen Stärken bündeln und gemeinsam agieren können.

Diese Perspektiven zeigen, dass kleine Versicherer nicht nur als Lieferanten agieren müssen. Vielmehr können sie durch Spezialisierung, Innovation und Zusammenarbeit ihre Position in einem zunehmend digitalisierten Markt stärken.

Fünf Lektionen aus unserer Diskussion Implikationen digitaler Ökosysteme für Versicherer

Die Podiumsdiskussion zum Thema „Implikationen digitaler Ökosysteme für Versicherer“ im Rahmen des Insurance Strategy Talk 2020 brachte spannende Erkenntnisse und Denkanstöße zutage. Im abschließenden Fazit teilten die Teilnehmer ihre wichtigsten „Lessons Learned“ – fünf zentrale Erkenntnisse lassen sich daraus ableiten:

  1. Klarheit über Ökosysteme schaffen
    Karl Heinz Passler betonte, dass Versicherungsunternehmen noch genauer definieren müssen, was digitale Ökosysteme und Plattformen für sie bedeuten. Diese Klarheit ist essenziell, um strategische Entscheidungen und die nächsten Schritte gezielt angehen zu können.

  2. Überraschende Perspektiven auf die Rolle der Versicherer
    Sibylle Fischer zeigte sich überrascht, dass viele Versicherer sich nicht als Orchestratoren von Ökosystemen sehen. Diese Erkenntnis stellt bisherige Annahmen infrage und eröffnet neue Ansätze, wie Versicherer ihre Rolle in digitalen Netzwerken verstehen und gestalten können.

  3. Neue Kooperationen durch außergewöhnliche Umstände
    Joerg-Tobias Hinterthür lenkte den Blick auf die überraschenden Kooperationen, die durch die Corona-Krise entstanden sind – wie die Zusammenarbeit von Aldi und McDonald’s. Diese Entwicklungen zeigen, dass auch in der Versicherungsbranche neue Partnerschaften möglich sind, die zuvor undenkbar erschienen.

  4. Von Theorie zur Praxis
    Dr. Stefan Knoll betonte die Notwendigkeit, Konzepte in der Praxis zu testen. Seine Ankündigung, gemeinsam mit den Diskussionsteilnehmern konkrete Proof-of-Concept-Projekte umzusetzen, verdeutlicht, wie wichtig es ist, theoretische Ideen mit praktischen Anwendungen zu verbinden.

  5. Erweiterung der Diskussionsthemen
    Philipp Harrschar plädierte dafür, bei zukünftigen Diskussionen Themen wie Vertriebswege, Prävention und Added Value stärker in den Fokus zu rücken. Diese Aspekte könnten wichtige Bausteine für innovative Geschäftsmodelle im Rahmen digitaler Ökosysteme sein.


Dieser Artikel repräsentiert den vierten Teil der Veranstaltung „Insurance Strategy Talk“ vom März 2020. Aufgrund der Corona-Einschränkungen wurde der Talk als Home-Office Edition durchgeführt. Der Artikel basiert auf der Transkription des Webinar-Videos.


Philipp Harrschar

Mirko Lorenz

Sibylle Fischer

Joerg-Tobias Hinterthür

Dr. Stefan Knoll

Karl Heinz Passler


Ressourcen

Webinar – Insurance Strategy Talk – Digitale Ökosysteme


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Digitalisierung und das Erfolgsgeheimnis der Deutsche Familienversicherung (Teil 3)